Texte

tenthman – Lutz Augspurger
“from an ontological point of view”

Ariane Faller – anlässlich der Ausstellungseröffnung “from an ontological point of view”, November 2018
Sehr geehrte Damen und Herren,

seit 2015 existiert die Reihe „Kunst im Rathaus“. Ich habe nicht alle Ausstellungen gesehen, aber alle wahrgenommen, und sicherlich geht es Ihnen da ähnlich. Es gab in den letzten Jahren hier im Rathaus in Furtwangen ein buntes Potpourri an unterschiedlichen Exponaten zu sehen,[…] doch eine Einladung mit der Abbildung einer in der Wüste liegenden Atombombe, vor die eine menschliche Hand ein Ei hält, gab es nicht und womöglich war dies in der Reihe bisher auch gar nicht denkbar. Doch nun gibt es sie und die dazugehörige Ausstellung ebenfalls und ich freue mich sehr, dass meine Heimatstadt Furtwangen sich offen für junge, unbequeme und vielversprechende Bildende Kunst zeigt, die das hat, was meiner Ansicht nach die Basis für eine gelungene künstlerische Auseinandersetzung ist: ein Anliegen.

Sie sehen dieses Anliegen nicht allein an den Abbildungen auf der Karte, allen voran dem „Opener“ der Ausstellung, „Atombombe und Ei“, auf den ich gleich noch einmal zu sprechen kommen werde, sondern auch an den Worten und Textpassagen. Sowohl der Künstlername Lutz Augspurgers – „tenthman“ – den ich später ebenfalls noch erläutern werde, der Ausstellungstitel „from an ontological point of view“ als auch das Statement des Künstlers konfrontieren uns unmittelbar damit, dass wir es hier mit einem Gegenüber zu tun haben, dem es nicht darum geht, uns hübsche harmlose Bilder zu zeigen.
Falls Sie jetzt denken ‘das ist mir zu kompliziert’, ‘das geht mich nichts an’, dann irren Sie sich. Aussteigen können Sie zwar immer, aber bringen wird es nichts mehr – Lutz Augspurger thematisiert ein Geschehen in dem Sie längst ebenso fest involviert sind, wie er selbst: das Leben. Und das geht uns alle etwas an, ob wir wollen oder nicht.
Also keine Angst, im Grunde ist es ganz einfach.
„There is no language of the holy, the sacred lies in the ordinary“ – „es gibt keine Sprache des Heiligen, das Sakrale liegt im Gewöhnlichen“. Dieses Zitat des chinesisch-amerikanischen Philosophen Deng Ming-Dao könnte als eine Art Leitspruch auf dem Weg in und durch das Werk von Lutz Auspurger, geboren 1979 in Buchen im Odenwald und seit 2011 in Furtwangen lebend, führen. Einfache, unprätentiöse Gegenstände sind es, mit denen er uns konfrontiert. Dinge des Alltags – seines Alltags ebenso wie des Ihren und des meinen -, Löffel, Kleiderbügel, Wäscheständer, Einkaufswagen, Relikte von Konservendosen und anderem Verpackungsmaterial. Keine außergewöhnlich schönen, wertvollen oder historisch-antiken Gegenstände sind es, sondern ganz schlichte, überall schon gesehene, mit denen jeder von uns ständig und selbstverständlich, ja, zumeist völlig beiläufig, umgeht. Und obgleich sich Lutz Augspurger durchaus in der Tradition des Objet Trouvés sowie des Readymades bewegt – wir erinnern uns an Marcel Duchamp, der im Jahre 1914 einen handelsüblichen Flaschentrockner auf einen Sockel gestellt und zu Kunst erklärt hat – sind direkte Eingriffe in die ausgewählten Gegenstände für sein Konzept unverzichtbar. Zwar sind diese oft „minimalinvasiv“, aber letztlich signifikant, sowohl im Aufbrechen und Aufheben der einstigen Funktionalität, als auch in der Belegung und Aufladung mit neuem Inhalt.
Schon Duchamps Readymades, deren Begriffsfindung im Jahre 1915 erfolgte, als der Künstler eine Schneeschaufel kaufte und mit seinem Namen, der Jahreszahl und dem Titel „Ready-made“ beschriftete, sorgten zunächst für einen außerordentlichen Skandal und man sprach ihnen vehement ab, Kunst zu sein. Mehr als hundert Jahre später dürfte es wohl eindeutig geklärt sein, dass der bildnerische Prozess in einem gefundenen Objekt nicht weniger vorhanden ist als in einem traditionell hergestellten Werk, wenngleich er sich auf eine andere Art – die des Erkennens seines Potenzials und Umdeutens seiner Funktion – vollzieht.
Doch warum machen es uns gerade diese bekannten, realen Gegenstände so schwer, Zugänge zu finden? Weil sie uns alle betreffen. Uns alle etwas angehen. Weil die „Schönen Künste“ zurecht längst nicht mehr nur schön sind und wir uns nicht mehr hinter dem Talent von Einzelnen und der Unvermögenheit des Eigenen verstecken können.
Lutz Augspurger erkennt, deutet um und macht diese Neudefinitionen sichtbar, indem er subtile Brüche – Stolpersteine – in die vorgefundenen Gegenstände einbaut.
Bei einem simplen IKEA-Kleiderbügel sägte er ein Stückchen der horizontalen Stange aus und ersetzte dieses durch die Maßeinheit einer Wasserwaage, die sogenannte Libelle, – ein nicht minder bekanntes Objekt. Zunächst scheint das eine mit dem anderen kaum etwas zu tun zu haben, doch meist sind die Dinge nicht, wie sie scheinen. Das neue Ganze ist weit mehr als die Summe seiner Teile, ein Balanceakt.
Einen weiteren Kleiderbügel, diesmal einen aus einfachstem, labilen Draht, der oft als Transportvehikel für chemisch gereinigte Kleidung dient, nutzte Lutz Augspurger als Ausgangsmaterial und ergänzte ihn durch ein Ei.
Wie der Kleiderbügel als ein Icon, ein Piktogramm, für den Menschen selbst – irgendeinen Menschen und zugleich jeden von uns – steht, in seiner charakteristischen Form, die grob dem Schultermaß entspricht und mit dem Haken als fragenzeichenartiges Haupt, so folgt jeder Gegenstand, jedes Material einer werkimmanenten Symbolik. Augspurger entwickelt eine Sprache der Dinge. „Allgemeine“, geläufige Symbolik korreliert mit ganz persönlicher; mit subjektiven Eindrücken, Erlebnissen und Erfahrungen. So auch das Ei, natürlich. Und was assoziieren wir alles mit dem Ei… Anfang, Ursprung, Entstehung, Existenz, Hervorbringen von Neuem. Aber auch Fragiles, Empfindliches, Beschützenswertes – das legendäre rohe Ei.
In den Drahtkleiderbügel integriert kommt das Ei nicht minder zerbrechlich daher, nur mehr ein wenige Millimeter zartes Kalkgebilde, und doch manifestiert es sich nicht nur als Sinn- und Impulsgeber für die Arbeit, sondern, unterstrichen durch die Positionierung, als Herzstück. Als Punkt, an dem die Fäden zusammenlaufen, der Draht im Ei verschwindet und nach einigen Zentimetern wiederauftaucht.
In der Arbeit „Atombombe und Ei“, einer der frühesten Arbeiten, die Lutz Augspurger in dieser Ausstellung zeigt, konfrontiert der Künstler das Ei, für ihn das Symbol des Seins, mit einer Replik der US-amerikanischen Atombombe, die am 9. August 1945 um 11:02 Uhr über Nagasaki explodierte und 36.000 Menschen unmittelbar das Leben nahm. Zehntausende starben in den Monaten und Jahren danach an den Folgen der Strahlung. J. Robert Oppenheimer, der sogenannte „Vater der Atombombe“, soll nach dem Trinity-Test in der Wüste New Mexicos, der ersten Zündung einer Kernwaffe in der Geschichte der Menschheit, aus der Bhagavad Gita, einer der wichtigsten Schriften des Hinduismus, zitiert haben: “…und ich bin der Tod geworden, Zertrümmerer der Welten“.
Das Symbol des Seins trifft auf das Symbol ultimativer Grausamkeit, Zerstörung und Menschenverachtung, dessen Schöpfer ihm ausgerechnet die Form eines Eis zugedacht hatte. Gibt es eine Fuge zwischen Gut und Böse?
Entstanden ist die Fotografie 2001 mittels einer Wegwerfkamera auf dem Gelände der White Sands Missile Range in New Mexico und die Erinnerung an den festgehaltenen Moment, ebenso die Betroffenheit angesichts unbeschwerter Touristenströme, bis hin zu Kindern, die die Atombombennachbildung umkletterten, sind noch immer deutlich spürbar wenn Lutz Augspurger über seine Arbeit spricht.
Wie nehmen wir Dinge wahr? Wie gehen wir mit ihnen um? Was bedeutet Realität? Dies sind nur einige exemplarische Fragen, die seine künstlerische Handlungen beeinflussen.
Betrachten wir beispielsweise die Arbeit „Stuhl und Rechen“:
Ein Stuhl ist wohl eines der am häufigsten genutzten Möbelstücke eines jeden Haushalts. Und auch wenn wir das Haus verlassen und an einen anderen Ort gehen treffen wir in der Regel auf Stühle. Sie sind immer da und es gibt Unmengen davon. Wir schieben sie zigmal täglich an Tische oder von ihnen weg, rücken sie zurecht, nehmen auf ihnen Platz, stehen wieder von ihnen auf und rücken sie erneut zurecht. Aber nehmen wir sie dabei wirklich wahr? Wenn sich die gewohnte Situation nun aber ändert, beispielsweise ein Stuhlbein abbricht, der Bezugsstoff reißt oder er einfach nur an einer anderen Stelle als der gewohnten steht, müssen wir den Stuhl plötzlich wahrnehmen. Die Situation ist anders und in ihrer vermeintlichen Unzulänglichkeit können wir nicht mehr sehen, was wir zu sehen glauben – oder gar sehen möchten -, sondern allein das, was ist.
Mit diesen Prozessen arbeitet Lutz Augspurger und steigert sie auch inhaltlich noch um ein Vielfaches, in dem er dem Stuhl die Sitzfläche nimmt und ihn dabei vollständig von seiner eigentlichen Funktion trennt. Der Stuhl wird Form, Gerippe, der entstandene Freiraum gefüllt mit Assoziationen. Würden wir uns setzen, hätten wir keinen Halt mehr, wir würden einsinken, fallen.
Die Sicherheit, von der wir im Leben ausgehen, entspricht nicht der Realität. Die Stabilität, die wir annehmen, existiert nicht.
Der Rechen, so scheint es, ist ein Rechen, denn es sind bis auf die Farbgebung keine Manipulationen an ihm vorgenommen worden. Und dennoch kann er im Zusammenspiel mit dem beschriebenen Stuhl kein gewöhnlicher Rechen mehr sein. Auch seine Funktionalität tritt zurück und bleibt zugleich als Sinnbild des Zusammenrechens von Übriggebliebenem, als Ausdruck der Bestandsaufnahme – nicht nur auf dem Feld sondern im Leben – bestehen.
„Lebenswerkzeug“, nennt Lutz Augspurger den Rechen, aber nicht nur ihn bezeichnet er so, sondern auch den Löffel, der uns in der Ausstellung mehrfach begegnet.
Sachlich auf einem einfachen Sockel, plausibel und widersprüchlich zugleich, liegt er da, der ausgehöhlte Esslöffel, dessen normalerweise Nahrung aufnehmende und transportierende Rundung nun durch eine Leerstelle gekennzeichnet ist. „The symbol of birth“ lautet der Titel dieses Objekts, begleitet uns der Löffel doch nahezu von der Geburt bis zum Tod, gefüllt zunächst mit Babybrei über die vielen Suppen, Pürees uns Desserts unseres Lebens hinweg bis zum dem Moment, an dem man den Löffel – wohl oder übel – wieder abgeben muss. Der alles verändernde Ausschnitt, die weite Öffnung synonym zur Schnelligkeit des Verrinnens, führt das stetige Akkumulieren des „Lebensbreis“, wie der Künstler konstatiert, ad absurdum und verweist auf die Vergeblichkeit, mit der wir alle vom Moment unserer Geburt an konfrontiert werden. Das Leben ist nicht nur ein Wunder, sondern auch ein Danaidenfass.
Eine andere Löffelarbeit zeigt den silbernen Protagonisten zu einem Drittel eingegossen in eine Konservendosenform aus Bienenwachs, welches Augspurger als ephemere Lebenssubstanz thematisiert, die zwar Robustheit suggeriert, aber mitunter durch äußere Einflüsse wie Wärme schnell ihren Aggregatszustand grundlegend verändert und zum empfindlichen, flüchtigen Material wird.
„The plight of being born“ – „die Misere, geboren worden zu sein“.
Die in der eben skizzierten Arbeit angesprochene, abwesende Konservendose, die dem Wachs die Form gab, begegnet uns als „Möbius-Konservendose“ wieder. Sicherlich ist es nicht genau jene Dose, aber das spielt eine untergeordnete Rolle. In ihrer früheren Funktion und ihrer Vergangenheit als weißblechernes Behältnis von eingelegten Pfirsichen – ich gehe auf die Pfirsiche hier nicht näher ein, aber nichts ist ohne Bedeutung – ist sie irgendeine und zugleich DIE Konservendose; ein Leitgedanke, der uns in Lutz Augspurgers Schaffen nicht zum ersten Mal begegnet. Das alltägliche, scheinbar vollkommen wertlose Dosenblech formuliert er zum Möbiusband um, das seit seiner Erstdefinition im Jahre 1858 nicht nur die Naturwissenschaften und die Technik, sondern auch Generationen von Künstlern nachhaltig beeindruckt und zu zahlreichen Werken inspiriert hat.
Das Möbiusband, laut Wikipedia vom mathematischen Standpunkt aus gesehen eine „nicht-orientierbare Mannigfaltigkeit“, hat nur vermeintlich zwei Seiten, nur scheinbar ein Innen und ein Außen. In Wahrheit hat es nur eine Seite und weder Innen noch Außen.
Aber was ist Wahrheit?
Mit dieser Frage hat sich Lutz Augspurger bereits in seinem Studium der Philosophie, zunächst in Berlin, später in Indien, auseinandergesetzt und vollkommen unterschiedliche, gar konträre, Betrachtungsweisen kennengelernt, wie beispielsweise das typisch deutsche Reflektieren von Sekundärliteratur oder den Idealismus der indischen non-dualen Philosophie, gestützt auf die Upanishaden und die bereits erwähnte Bhagavad Gita, die übrigens als drittmeist gedrucktes Buch der Welt gilt, nach dem IKEA-Katalog und der Bibel. Die Wertigkeit dieser Tatsache wäre für sich genommen ein abendfüllendes Thema.
Vornehmlich geblieben sind Augspurger die Faszination für die Metaphysik und die Ontologie, beide Bereiche überschneiden sich, nicht wenige Philosophen waren und sind der Meinung, beides wäre eins. „From an ontological point of view“ lautet der Titel dieser Ausstellung. Die Ontologie, maßgeblich beeinflusst durch Aristoteles, ist nicht leicht in Worte zu fassen. Oft wird sie als die Lehre vom Sein bezeichnet, als das Bemühen, ein Urprinzip des Seins zu finden. Irgendwo habe ich bei meiner Recherche gelesen, die Ontologie sei die Frage nach der Beschaffenheit der Welt und besser kann man wohl auch die stetige Suche in der Bildenden Kunst kaum beschreiben.
Lutz Augspurgers Arbeiten geben uns keine Anleitung mit auf den Weg, wie wir wahrnehmen oder welche Standpunkte wir einnehmen sollen. Sie sind Vorschläge, zu sehen, vielleicht sich zu distanzieren oder aber sich einzulassen und mitzudenken.
Eine Erläuterung bin ich Ihnen noch schuldig geblieben, aber die wichtigsten Dinge gehören ja bekanntlich an den Schluss, damit man sie am besten in Erinnerung behält.
Lutz Augspurgers Künstlername Tenthman basiert auf einer Parabel aus den Upanishaden. Sie beschreibt eine Flussdurchquerung von zehn Schülern während einer Reise. Der Fluss hatte eine starke Strömung und die sich an den Händen haltenden Jungen wurden auseinandergerissen. Als sie endlich das andere Ufer erreichten, stellten sie sich auf und der Anführer der Gruppe zählte sie. Doch er kam nur auf neun und die Schüler gingen in Panik davon aus, einer von ihnen wäre ertrunken. Ein Weiser, der die Szene beobachtet hatte, kam ihnen zu Hilfe. Die Schüler stellten sich erneut auf und der Weise zählte sie von eins bis neun und als er beim zuvor zählenden Jungen ankam sagte er „Zehn. Du bist der zehnte Mann.“ Glücklich begriff der Junge und sagte: „Ich bin der zehnte Mann“ – „I am the tenth man“.

Das Gesuchte ist immer schon da.

Ariane Faller, Bildende Künstlerin, stereoshaped.de
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